Die Geschwindigkeit des Gehirns: Ein Paradox der menschlichen Informationsverarbeitung
Das menschliche Gehirn ist ein Wunderwerk der Natur, aber gleichzeitig ein System voller Widersprüche. Trotz einer Informationsverarbeitungskapazität von bis zu 1,6 Gigabits pro Sekunde auf der Ebene der Retina schafft es das Gehirn nur, etwa 10 Bits pro Sekunde in bewusstes Verhalten umzusetzen. Dieses erstaunliche Ungleichgewicht wirft Fragen darüber auf, wie unser Gehirn funktioniert und warum diese Grenzen bestehen.
Informationsaufnahme und Verarbeitung
Unsere sensorischen Systeme liefern riesige Mengen an Informationen. Ein Beispiel ist die Retina, deren etwa 6 Millionen Zapfenzellen gemeinsam eine Kapazität von 1,6 Gigabits pro Sekunde erreichen. Dennoch wird diese Flut an Daten stark reduziert, bevor sie das bewusste Denken erreicht. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung in verschiedenen Aufgaben wie Lesen (28–45 Bits/s) oder Sprechen (39 Bits/s) liegt deutlich unter diesem Niveau.
Beispiele aus der Praxis
Eine der eindrucksvollsten Demonstrationen der mentalen Verarbeitung ist der Wettkampf im „BlindfoldednSpeedcubing“. Dabei lösen Teilnehmende einen Rubik-Würfel blind, nachdem sie ihn für wenige Sekunden betrachtet haben. Die Informationsrate während der Wahrnehmungsphase wurde auf etwa 11,8 Bits pro Sekunde geschätzt.
Auch in der Welt des Leistungssports gibt es spannende Beispiele. Professionelle StarCraft-Spieler können während intensiver Sequenzen bis zu 16,7 Bits pro Sekunde verarbeiten, während die besten Tetris-Spieler etwa 200 Aktionen pro Minute erreichen.
Eine interessante Beobachtung liefert auch der Vergleich von Sprechen und Tippen. Ein geübter englischer Sprecher erreicht etwa 160 Wörter pro Minute, was einer Informationsrate von rund 13 Bits pro Sekunde entspricht. Im Vergleich dazu schafft ein geübter „Tipper“ 120 Wörter pro Minute, was einer ähnlichen Geschwindigkeit entspricht, jedoch stark von der Vorhersehbarkeit der Sprache abhängt.
Die Illusion der Details
Viele Menschen empfinden ihre visuelle Wahrnehmung als reich an Details. Diese „Subjektive Inflation“ wird durch die hochspezialisierte Struktur unseres visuellen Systems erzeugt. Tatsächlich sinkt die Auflösung und Farbempfindlichkeit drastisch außerhalb des zentralen Blickfelds.
Evolutionäre Perspektiven
Die Begrenzung der Informationsverarbeitung auf 10 Bits pro Sekunde mag für die moderne Welt langsam erscheinen, war jedoch evolutionär sinnvoll. In der Umwelt unserer Vorfahren genügte diese Geschwindigkeit, um effektive Entscheidungen zu treffen und zu überleben. Diese Anpassung zeigt, dass Geschwindigkeit nicht zwangsläufig mit Überlebensvorteilen verbunden ist.
Schlussfolgerung
Die scheinbare Langsamkeit des menschlichen Gehirns ist weniger ein Mangel als vielmehr ein Spiegel seiner Effizienz. Durch die Fokussierung auf das Wesentliche ermöglicht es uns, komplexe Entscheidungen zu treffen und in einer sich ständig verändernden Welt zu bestehen. Diese Erkenntnisse könnten nicht nur unser Verständnis der Kognition vertiefen, sondern auch neue Möglichkeiten in der Technologieentwicklung schaffen.
Quelle: Zheng and Meister, The unbearable slowness of being: Why do we live at 10 bits/s?, Neuron (2024), https://doi.org/ 10.1016/j.neuron.2024.11.008
Michael Deutschmann, MSc
Zert. Change-Manager, Akad. Mentalcoach & Supervisor
Persönlichkeits-, Team- & Organisationsentwicklung
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Michael Deutschmann, MSc
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